St. Martin, mehr als ein Laternenumzug

Wer in diesen Tagen, am späten Nachmittag, wenn es dunkel wird, in den Städten und Gemeinden durch die Straßen geht, kann hier im Rheinland auf eine liebenswerte Behinderung treffen. Auch wenn die Corona-Situation zu Einschränkungen führt, finden doch vielerorts wieder die traditionellen Martinsumzüge statt. Kinder tragen stolz ihre Laterne, Blaskapellen spielen Martinslieder und voran reitet St. Martin, hoch zu Ross, mit im Zug. Am Zielort steigt Martin vom Pferd, teilt seinen Mantel mit dem Schwert und gibt, im Schein des Lagerfeuers und der Kinderlaternen, eine Hälfte an einen Bettler, der keine warme Kleidung, sondern nur Lumpen anhat. Bevor der Bettler danken kann, steigt Martin wieder auf sein Pferd und reitet davon. 

Die kleine Darbietung spielt die Legende von St. Martin nach, der als römischer Soldat, um das Jahr 316, in einer kalten Nacht seinen Mantel mit einem Bettler geteilt haben soll. In der folgenden Nacht erschien Martin der Bettler im Traum und gab sich als Jesus Christus aus. Martin ließ sich daraufhin taufen und wurde Bischof von Tours. Während seiner 30-jährigen Zeit als Bischof soll er viele Wunder getan haben, wofür er nach seinem Tod heiliggesprochen wurde. Bis heute aber ist St. Martin vor allem durch seine Barmherzigkeit bekannt.

Das Martinsfest, das traditionell am 10. November gefeiert wird, ist in diesem Jahr eine schöne Erinnerung an die Jahreslosung: „Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Barmherzigkeit war und ist in unserer Welt leider „Mangelware“. Barmherzigkeit passt nicht unbedingt in unseren Alltag, stört oft in unseren Planungen. Der Soldat hatte sicher viel für seinen warmen Mantel bezahlen müssen und sein Sold war vermutlich nicht so hoch. Wir haben heute noch zusätzlich das Problem, dass wir kaum noch Zeit haben Menschen wahrzunehmen, die unserer Barmherzigkeit bedürfen, ganz zu schweigen davon, innezuhalten und zu handeln. Wer kann heute Jesu Aufforderung „und wenn einer von dir verlangt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei Meilen mit ihm!“ (Mt 5,41), im übertragenen Sinn die Zeit für die zwei Meilen aufzubringen, wirklich erfüllen?

Vielleicht hält uns ein Laternenzug in den nächsten Tagen auf unseren Wegen auf. Vielleicht müssen wir warten, bis die Kindern an uns vorbeigezogen sind und die Straße wieder frei wird. Vielleicht hilft uns aber auch die Erinnerung an die Laternenzüge unserer Kindheit oder die unserer Kinder – damals, um etwas Geschwindigkeit aus unserem aktuellen Leben zu nehmen. Wie auch immer, es lohnt sich ab und zu innezuhalten, um der Barmherzigkeit eine Chance zu geben.

Mit herbstlichen Grüßen aus dem Rheinlan
Ulrich Hykes