Heute schon verfolgt worden?

Zugegeben, eine ungewöhnliche Frage, schließlich leben wir in einem Land, in dem Verfolgung nicht an der Tagesordnung ist. Trotzdem hinterlässt uns Jesus in seinen Seligpreisungen: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.“ (Mt 5,10), oder wie es andere Übersetzungen statt „selig sind …“ ausdrücken: „Glücklich dürfen sich die schätzen, die …“. Also, warum dürfen wir uns glücklich schätzen, wenn wir verfolgt werden? Was meint Jesus, wenn er den Einsatz für Gerechtigkeit mit dem „Himmelreich haben“ in Verbindung bringt?

Gerechtigkeit hat immer etwas mit Teilen und Verteilen zu tun, egal ob es dabei um materiellen Besitz oder um immaterielle Werte, wie z.B. Zuwendung, Aufmerksam-keit, Hoffnung, Glaube oder Liebe geht. Da wo wir - um der Gerechtigkeit willen - einen Anspruch stellen können, haben wir meistens keine Probleme mit einer Neu- oder Umverteilung, da wo wir abgeben müssen schon eher. Viele Fragen der Gerechtigkeit betreffen nicht uns allein. Oft sind wir Teil einer Gruppe, in der von Entscheidungen viele betroffen sind. Insbesondere wenn wir die Entscheidungen selbst in der Hand haben, werden wir herausgefordert. Hier geraten wir schnell unter Druck. Da wird von uns erwartet, dass wir im Sinn der Gruppe entscheiden, oft auch dann, wenn die Konsequenzen ungerecht wären. Ein Fußballspieler, der ein Handspiel zugibt, obwohl der Schiedsrichter das nicht gesehen hatte, zieht schnell den Ärger der Mitspieler, des Vereins und der Fans auf sich. Eigentümer, die versteckte Einkünfte dem Finanzamt melden, ziehen schnell den Ärger anderer Miteigentümer auf sich, wenn daraufhin alle eine Steuernachzahlung erhalten. Schüler, die sich für benachteiligte Mitschüler einsetzen, kommen schnell selbst an den Rand des Klassenverbands. Die Liste kann ohne viel Fantasie sicherlich von jedem beliebig fortgesetzt werden. Gerechtigkeit hat die Eigenschaft, dass es immer Menschen geben wird, die von den Konsequenzen einer Entscheidung betroffen sind. Oft geht es u.a. an ihre Privilegien und Besitztümer und sie leisten Widerstand und üben Druck aus, weil sie ihre eigenen Ziele verfolgen wollen. Gerechtigkeit und Verfolgung sind also nicht weit voneinander entfernt. Die Frage ist, bleiben wir standhaft? Halten wir an der Gerechtigkeit fest, auch wenn es für uns unangenehm wird? Bleiben wir ehrlich vor uns selbst?

In der aramäischen Sprache, in der Jesus wohl gepredigt haben dürfte, steckt in dem Wort Gerechtigkeit „auch die Bedeutung, dass man alle Parteien oder Stimmen zusammenbringt, um sie als gleichwertig zu hören und zu bedenken.“ Das Streben nach Gerechtigkeit passt demnach in der Lehre Jesu zu dem, was er uns vom Himmelreich erzählt, vom Einssein untereinander und mit Gott. Wenn wir also alle Menschen, alle ihre unterschiedlichen Stimmen und Meinungen gleichwertig hören und bedenken, wenn wir (an)erkennen, dass wir nicht über dem anderen stehen und alle zu der Gemeinschaft der Kinder Gottes gehören, öffnen wir in unserem Leben ein Stück Himmel bereits hier auf der Erde.

In einem schwedischen Film übernimmt ein Stardirigent die Leitung eines Kirchen-chors in einem kleinen Dorf. Die einzelnen Chormitglieder haben alle berechtigte Gründe sich untereinander etwas vorzuwerfen. Anstatt Lieder einzuüben, verwendet der Chorleiter seine Zeit und Arbeit damit, dass die Sänger „ihren Ton“ finden und lernen dabei auf jeden Einzelnen zu hören, damit sich ihr eigener Ton in den Chor einfügt. Das ist für alle nicht leicht und für den Chor ein weiter Weg, bis jeder bereit ist, den Ton des Anderen so zu akzeptieren, wie er ist und gemeinsam eine Einheit zu bilden. Am Ende steht eine Aufführung, die keiner Partitur folgt. Alle Sänger singen ihren Ton und es entsteht ein Gesamtklang, der so harmonisch ist, dass er unter die Haut geht. Der Titel des Films: „Wie im Himmel“.

Ich wünsche uns allen heute, in dieser Woche und an allen Tagen immer wieder „ein Stück Himmel“.

Ulrich Hykes